In den späten 90er Jahren erreichte Techno seinen kommerziellen Höhepunkt. Im Zuge des Mainstream-Erfolgs wurde er verwässert und verlor seinen kreativen Funken. Während die Medien das Interesse verloren, ging die Szene zurück in den Untergrund. In den 2000er Jahren hatten einst lebendige lokale Szenen und Clubs in ganz Deutschland zu kämpfen. Nicht so in Berlin. Verjüngt stieg es auf und festigte seinen Status als weltweit führender Techno-Hotspot und Ziel für Clubber aus aller Welt. Und wieder spielte der Zufall eine große Rolle bei dieser Entwicklung.
Im Jahr 2004 landeten die ersten Easyjet-Flugzeuge in Berlin. Im Vergleich zu anderen westlichen Großstädten wie London, Paris oder New York waren die Lebenshaltungskosten billig, der wirtschaftliche Druck gering und Berlin befand sich auch 15 Jahre nach dem Mauerfall noch im Wandel mit vielen freien Flächen im Herzen der Stadt. Einzigartige Umstände, die die Phantasie kreativer und zukunftsorientierter Köpfe kitzelten. Historisch liberale Sperrstundengesetze trugen nur zum Reiz einer Stadt bei, die freie Meinungsäußerung versprach und sich als "arm, aber sexy" zu vermarkten begann.
Mitte der 2000er Jahre wurde Berlin schließlich zu einer wirklich internationalen und vielfältigeren Metropole. Während die Welt davon Notiz nahm und die Zahl der Touristen und Expats wuchs, führte die Berliner Clubszene ihre Traditionen fort: Tanzen in brutalistischen, postindustriellen Räumen, Ablehnung der Celebrity-Kultur und Begrüßung derjenigen, die kommen, um zu erkunden und mitzugestalten, anstatt einfach nur die Vorzüge einer Stadt zu konsumieren, die niemals zu schlafen scheint. Als sich die Zusammensetzung der Berliner Bevölkerung änderte, wurden einige der fortschrittlichsten Partyreihen und Clubnächte von Auswanderern aus der ganzen Welt initiiert: Homopatik, Gegen, Buttons, Lecken, Creamcake, Cocktail D'Amore, Pornceptual ... die Liste geht weiter - und ist ein Zeugnis für die kreative Kraft der LGBTQ+-Community der Stadt.
Heute, im Jahr 2020, ist die jüngere Vergangenheit Berlins fast so mythologisiert wie die anarchischen Anfänge in den frühen 90er Jahren. Geschichten von Ausschweifungen und 72-Stunden-Party-Marathons in berühmten Clubs wie dem Berghain oder der Griessmühle prägen noch immer das Bild der Stadt. 30 Jahre nach dem großen Knall des Mauerfalls ist die Clubkultur ein Teil der DNA der Stadt. Sie ist ihre größte wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Und doch steht sie im Zuge der Corona-Pandemie vor einer existenziellen Bedrohung. Von der Politik vernachlässigt, sind die Auswirkungen der Pandemie die mit Abstand größte Herausforderung, die die Clubkultur bisher erlebt hat.
Was auch immer die Zukunft bringt, es gibt eine neue Generation, die darauf wartet, ihre Spuren in der Geschichte des Raves zu hinterlassen. Trotz der Herausforderungen von Kommerzialisierung, Homogenisierung oder Gentrifizierung, die mit 30 Jahren Clubkultur einhergehen, kann Clubbing in seinen besten Momenten immer noch Unterschiede transzendieren, als ob sie keine Rolle mehr spielen. Solange man bereit ist, loszulassen und mitzumachen.
Hör dir unsere Playlist an, inspiriert von der Energie der Szene.
Tilman Brembs